Was genießen wirklich bedeutet

Eva-Maria Endres studierte Oecotrophologie (B.Sc.) und Public Health Nutrition (M.Sc.) an der Hochschule Fulda. Für ihre Masterarbeit zur Ernährungskommunikation in Sozialen Medien erhielt sie 2014 den Oecotrophica-Preis als deutschlandweit beste Abschlussarbeit im Bereich Ernährungsverhaltens- und Konsumforschung. Aktuell ist sie bei APEK tätig, dem Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsbüro für sozialökologische Agrarpolitik und reflexive Ernährungskultur. Karina Neitzel hat sie interviewt.

Was bedeutet Genuss für Sie persönlich? Was gehört dazu, um ein Gericht, ein Lebensmittel zu genießen?

Genuss ist für mich immer mit Zeit verbunden. Zum einen spielt sich Genuss für mich in bestimmten Routinen ab. Zum Beispiel, wenn ich mir morgens zehn Minuten Zeit nehme und in einem Café meinen Cappuccino trinke, die Leute beobachte und mich mit dem Cafébesitzer unterhalte. Das ist auch schon der zweite Punkt: Genuss hat auch immer etwas mit persönlichen Beziehungen und Geschichten zu tun. Auch unter Berücksichtigung des Themas Kommunikation ein wichtiger Punkt, denn Essen und Lebensmittel werden mit Geschichten verknüpft. Es sind eben nicht nur Gerichte, sondern man kann erzählen woher es kommt, wer es zubereitet hat, welche Intention dahintersteckt. So sind es für mich die Gerichte aus meiner Kindheit, die meine Oma gemacht hat, mit denen ich ganz spezifische Erinnerungen, Gerüche und Gefühle verbinde - ganz besondere Genussmomente. Was mit dem Aspekt, des „sich Zeit nehmen“ auch verbunden ist, ist die Bedeutung aller Sinne. Man konzentriert sich auf den Moment und die Situation und isst nicht nebenbei, sondern versucht, wirklich das Lebensmittel in all seinen Facetten wahrzunehmen: Wie es riecht, wie es sich auf der Zunge anfühlt, wie es klingt, wie es aussieht.

„Sich Zeit nehmen“ hat aus meiner Sicht auch mit Wertschätzung zu tun. Diese Wertschätzung gilt dann nicht nur dem Lebensmittel an sich, sondern natürlich auch dem Produzenten des Rohproduktes.
Absolut. Produkte, die wir am meisten genießen können, sind diejenigen, bei denen wir wissen, wie viel Arbeit dahintersteckt. Entweder, weil wir die Arbeit während der Zubereitung selbst gemacht haben, oder weil es uns von jemandem erzählt wurde. Das Thema Storytelling sehe ich hierbei für Landwirte als zentralen Punkt. Es ist ja faktisch so, dass ein Großteil der Bevölkerung heute keinen Zugang mehr zu landwirtschaftlichen Prozessen hat und sich auch gar nicht vorstellen kann, wie anspruchsvoll und komplex diese Arbeit eigentlich ist. Ich wohne in Berlin und pachte seit zwei Jahren mit einer Freundin einen Garten. Wir erleben, was für eine komplexe und anspruchsvolle Arbeit das ist. Um zu kommunizieren, welche Leidenschaft dahintersteckt und mit welchen Herausforderungen man täglich konfrontiert ist, bieten soziale Medien eine sehr gute Plattform. Das Interesse an den Geschichten, den Eindrücken aus dem Arbeitsalltag und dem Blick hinter die Kulissen wächst in der Bevölkerung. Den zeitlichen Aufwand dahinter darf man allerdings nicht unterschätzen. Was ich hier als Tipp geben kann – Menschen schließen sich immer wieder zusammen und eröffnen gemeinsame Kanäle. Dann ist vor Allem der Aufwand überschaubarer.

Das ist ein sehr guter Tipp. Wir haben schon viel über den bewussten Genuss gesprochen. Mittlerweile gibt es aber auch viele Apps, die sich mit der Ernährung auseinandersetzen. Das mündet schnell in einen Selbstoptimierungsprozess. Führt das dazu, dass wir weniger genießen, wenn wir Mahlzeiten ganz genau zusammensetzen, Kalorien zählen, die Gesundheitswerte tracken? Und führt das zu einem Verlust an Genussmomenten, verlernen wir tatsächlich zu genießen?

Es kann dazu führen, ja. Wir entwickeln dadurch ein funktionales Verhältnis zum Essen. Das steht dem Genuss diametral gegenüber. Ich erlebe meinen Körper also mehr wie ein Auto, mit dem ich zur Tankstelle fahre, Benzin und Motoröl rein gebe und dann läuft der Motor wieder. Genauso mache ich es dann eben auch mit meinem Körper. Ich erlebe meinen Körper wie eine Maschine und verlerne auf meine Bedürfnisse zu hören. Das Problem, das ich bei diesen Apps sehe, ist, dass sie standardisierte Empfehlungen vorgeben und die Illusionen eines optimalen Standards verkaufen, der so in der Ernährungswissenschaft aber nicht existiert. Es ist unglaublich schwierig, einen perfekten Ernährungsstandard für die ganze Bevölkerung vorzugeben, der für alle Menschen funktioniert. Die neueren Entwicklungen in der Ernährungswissenschaft sagen deutlich, dass unser Verdauungssystem, die Verstoffwechselung von Nährstoffen höchst individuell arbeitet. Schon Hippokrates hat vor 2000 Jahren gesagt: Wenn wir versuchen würden, ein Maß zu finden, was Gesundheit ist, dann werden wir keine Zahl oder irgendeine andere Einheit finden, sondern nur das Gefühl des eigenen Körpers. Und jetzt, 2000 Jahre später, sind wir wieder an dem Punkt, an dem wir feststellen, dass Ernährung höchst individuell ist.

Können Direktvermarkter und handwerkliche Betriebe im Lebensmittelbereich in Social Media zu einer gesunden und individuellen Ernährung beitragen? 

Man muss natürlich sagen, dass Landwirte nicht dafür verantwortlich sind, Ernährungskommunikation im Bereich Gesundheit zu betreiben. Das was sie machen können, ist einen realistischen Einblick zu gewähren. Es ist ein wunderschöner Beruf, aber es ist auch super anstrengend, herausfordernd und anspruchsvoll. Das zu kommunizieren, ist eine Möglichkeit, wodurch sich auch die Wertschätzung für landwirtschaftliche Produkte erhöhen kann. Auf der gesundheitlichen Seite sehe ich die Möglichkeit, den Kontakt zu unverarbeiteten Produkten wieder zu stärken. Wir leben in einem komplexen Alltag und man hat wenig Zeit zum Kochen, wodurch man eher mal auf Convenience Produkte zurückgreift. Für die Landwirtschaft wäre es toll, wenn die unverarbeiteten Produkte von den Verbrauchern mehr genutzt würden. Landwirte könnten auch selbst zeigen, wie sie ihre Produkte verarbeiten, was man damit kochen kann und wie einfach es eigentlich auch ist, schnelle Gerichte zu kochen. 

Welchen Mehrwert können Soziale Medien hinsichtlich eines gesunden Ernährungsverhaltens leisten?

Eine Stärke von sozialen Medien ist die Bildung von Communities. Menschen können sich über die sozialen Medien extrem schnell und gut miteinander vernetzen und sich über verschiedenste Formen der Ernährung austauschen. Hier sehe ich auch eine große Chance für die Landwirtschaft, gerade wenn es um kleinbäuerliche, regionale Erzeugung geht. Wenn ich die Geschichte hinter dem Produkt oder den Landwirt persönlich kenne, dann baue ich eine Beziehung auf. Das ist natürlich auch eine Form der Kundenbindung. Eigentlich die beste Kundenbindung, die man betreiben kann. 


Steckbrief:

Name: Eva-Maria Endres
Ausbildung: Oecotrophologie (B. Sc.) und Public Health Nutrition (M. Sc.)
Position: Wissenschaftliche Beraterin und Büroleitung bei APEK Consult - Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur
Leidenschaften: Gutes Essen und guter Wein, mein Garten, Schallplatten und einfache Möbel bauen

 

 

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